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Tissue Engineering: Was die Regenerative Medizin heute schon leistet

Es ist ein großer Traum der Menschheit: wenn Organe erkranken und ihren Dienst versagen, lassen Wissenschaftler sie im Labor einfach wieder nachwachsen. Tissue Engineering nennt man diesen Ansatz. Die Forschungsdisziplin ist Teil der Regenerativen Medizin. Was erst mal klingt wie eine Geschichte aus Frankensteins Gruselkabinett ist in Wirklichkeit eine große Hoffnung und der Strohhalm für viele Patienten, die dringend auf ein Spenderorgan angewiesen sind.

 

Situation der Patienten auf der Warteliste für eine Organspende

Dialysepatienten in Deutschland müssen im Schnitt vier bis acht Jahre warten, ehe sie eine neue Niere bekommen. Bei Herzpatienten dauert es sechs bis 24 Monate, bevor ein neues Herz bereitsteht. Aber nicht jeder Patient hat diese Zeit. Für viele geht es um Leben und Tod. Besonders tragisch ist, dass sich unter den wartenden Patienten jedes Jahr auch ca. 200 bis 300 Kinder befinden, die dringend ein neues Organ benötigen, weil ihr eigenes nicht mehr richtig arbeitet. Doch leider sind Spenderorgane sehr knapp. Und daran haben nicht nur die jüngsten Organvergabe-Skandale Schuld. Die Möglichkeit der Lebendspende besteht nur bei Nieren und Lebern. Alle anderen Organe dürfen ausschließlich hirntoten Spendern entnommen werden. Es muss also zunächst ein Mensch versterben, der sich selbst zu Lebzeiten für die Organspende entschieden hat oder dessen Angehörige sich in sehr schweren Stunden zu dieser großherzigen Geste bereiterklären. Erst dann erfüllt sich für einen Kranken die Hoffnung auf ein neues Organ. Erschwerend kommt hinzu, dass nicht jedes Organ gleichermaßen für jeden Patienten geeignet ist. Die Gewebemerkmale von Spender und Empfänger müssen übereinstimmen, damit das Immunsystem das fremde Organ nicht attackiert und abstößt. Bei körpereigenen Transplantaten, bei denen Spender und Empfänger die gleiche Person sind (autolog), besteht diese Gefahr nicht. Daher forschen Wissenschaftler bereits seit vielen Jahren an der Züchtung von körpereigenem Gewebe. Es stellt sich folglich die Frage: Was kann die Regenerative Medizin heute schon leisten? Vita 34 möchte Ihnen drei aktuelle Forschungsprojekte vorstellen.

 

Mini-Gehirne aus Stammzellen

Bereits vor zwei Jahren berichteten Forscher aus Wien, dass sie Mini-Gehirne aus Stammzellen züchten können. Die aus induzierten, pluripotenten Stammzellen, sogenannten IPS („Alleskönner“), gewonnenen neuronalen Stammzellen entwickeln sich im Labor zu Zellverbänden und Strukturen, die den Gehirnen von wenigen Wochen alten, menschlichen Embryonen sehr ähnlich sind. Das konnte nun ein Vergleich zwischen den Mini-Gehirnen aus dem Reagenzglas und fötalen Großhirnrinden bestätigen. Bei den Mini-Gehirnen kann man zwar noch lange nicht von echten Gehirnen sprechen, allerdings können diese organ-ähnlichen Strukturen (Organoide) helfen, um Medikamente auf ihre Verträglichkeit für Menschen zu testen. Damit werden in absehbarer Zeit Tierversuche überflüssig, außerdem erhöht sich die Aussagekraft der Medikamententests. Bislang dienten Mausmodelle als Referenz, doch zeigte es sich in jüngster Zeit, dass sich die Gehirne von Menschen und Mäusen sehr unterschiedlich entwickeln. Die Wissenschaftler hoffen außerdem, darüber einen Ansatz zur Behandlung von neurologischen Bewegungs- und Sprachstörungen aber auch von Autismus und Schizophrenie zu finden. Allerdings wird wohl noch einige Zeit vergehen, bis man mit Hilfe von Stammzellen die bei Alzheimer oder Parkinson auftretenden neuronalen Schäden beheben kann.

 

Mit Mini-Herzen auf der Suche nach gefährlichen Medikamenten

In den USA gelang es kürzlich, Mini-Herzen zu züchten. Diese Zellhaufen sind allerdings wirklich als „mini“ zu bezeichnen: Nur 800 Mikrometer groß – kaum mehr als ein Salzkorn und auch nicht mit einem echten Herzen vergleichbar. Allerdings besitzen sie sehr ähnliche Strukturen und genau das macht sie so interessant. Erfolgreich Herzzellen aus induzierten, pluripotenten Stammzellen zu züchten, ist schon vielen Forscherteams gelungen. Doch normalerweise wachsen Herzzellen im Bioreaktor zu einer Scheibe heran. Die amerikanischen Forscher zwangen die Herzzellen nun in enge Kästchen. Diese dienten damit als 3-D-Schablonen. Die Zellen bildeten in der Folge keine Scheibe, sondern entwickelten sich zu einer ballonartigen Struktur, die aus unterschiedlichen Zellschichten besteht. Außen befinden sich Fibroblasten, eine Art Bindegewebe. Diese spielen beispielsweise bei der Wundheilung eine wichtige Rolle. Im Inneren befinden sich die Herzmuskelzellen, die den Herzschlag erzeugen. Die Mini-Herzen eignen sich, um das Herz eines Fötus zu simulieren. So ließen sich in Zukunft durch Medikamente ausgelöste Veränderungen bei Embryonen wohl vermeiden, wenn die Wirkstoffe vor der Zulassung an den Miniherzen aus Stammzellen getestet würden.

 

Blutgefäßsystem der Lunge aus Stammzellen

Die Grundlage für ein neugezüchtetes Blutgefäßsystem der Lunge bildet ein Gerüst aus sogenannter extrazellulärer Matrix, kurz ECM. Dabei wird die Lunge eines Tieres oder eines Menschen von allen Zellen befreit. Zurück bleibt die extrazelluläre Matrix und damit der von der Natur vorgegebene Bauplan. Im nächsten Schritt wird diese verbliebene Struktur wieder mit frischen Zellen des gewünschten Gewebes besiedelt – bei einem Lungengerüst also mit Lungenzellen. Nun ist es Wissenschaftlern gelungen, das Gefäßsystem einer menschlichen Lunge mit IPS – also induzierten, pluripotenten Stammzellen – zu besiedeln. Dafür war es notwendig, dass sich die IPS in verschiedene Zelltypen ausdifferenzieren und diese in ausreichender Reinheit und Anzahl zur Verfügung stehen. Das Experiment ist für die Stammzellforschung deshalb so wegweisend, weil das entstandene Gewebesystem drei wichtige Grundfunktionen der Blutgefäße aufweist: Es übernimmt eine Barrierefunktion, ermöglicht die Durchblutung und verhindert die ungewollte Blutgerinnung. Das langfristige Ziel der Wissenschaftler ist es, eine neue, voll funktionstüchtige, menschliche Lunge züchten zu können, die später mit patienteneigenen Zellen besiedelt wird. Der Vorteil liegt auf der Hand: Bei patienteneigenem, gezüchtetem Gewebe ist nicht mit einer Abstoßungsreaktion zu rechnen, so dass auf die heute nach einer Transplantation notwendige, lebenslängliche Immunsuppression verzichtet werden kann.

 

Die Zukunft hat bereits begonnen

Zwar muss in der Stammzellforschung noch immer viel Grundlagenarbeit betrieben werden, doch die Wissenschaftler verstehen immer besser die Mechanismen, die dazu führen, dass sich Stammzellen in verschiedene Gewebearten ausdifferenzieren. Die Forscher können bereits heute die Prozesse gezielt lenken und so erste, körpereigene Gewebe züchten. Damit ist das Tissue Engineering keine ferne Zukunftsmusik mehr – auch wenn es noch viele Jahre dauern wird, bis Stammzelltherapien allen Patienten als Standardtherapien zur Verfügung stehen. Glücklich schätzen können sich dann all jene Menschen, deren Eltern den Weitblick hatten, bereits bei der Geburt ihres Kindes ein Stammzelldepot aus dem Nabelschnurblut oder Nabelschnurgewebe anlegen zu lassen. Denn ihnen stehen damit jederzeit junge und vitale Stammzellen für eine regenerative Therapie zur Verfügung.